Kalenderblatt Juni 2011

Juni 2011

Das landwirtschaftliche Anwesen Otto / Mannel-Otto / Bernd Otto, Alte Kasseler Straße

In der Nacht vom 26. auf den 27. März 1945 begannen SS-Einheiten mit der Evakuierung der Arbeitskräfte der Allendorfer Munitionsfabriken. Die dortigen KZ-Häftlinge des Außenkommandos Buchenwald wurden nach Norden geführt. Unter ihnen die Überlebenden von 1.000 ungarischen Jüdinnen, die im Spätsommer 1944 von Auschwitz über Buchenwald nach Allendorf gebracht worden waren.

Am späten Nachmittag des 28. März 1945 erreichte die Kolonne Wabern. Zwischen 80 bis 100 Frauen, bewacht von etwa 20 SS- Leuten, übernachteten an diesem Tag auf dem Bauernhof der Eheleute Ottilie und Otto Otto. Der Hof war wohl aufgrund seiner Größe und Abgeschiedenheit zur Übernachtung ausgewählt worden. Die Frauen, die dort nun ankamen, sahen von der harten Arbeit in den Munitionsfabriken und dem körperlich anstrengenden Marsch - abgesehen von den psychischen Belastungen - sehr erschöpft aus. Ihre Kleidung wird dagegen von einer Zeitzeugin als "nicht schlecht" bezeichnet.

Der Landwirt Otto reagierte sofort, er wollte helfen. Doch wie sollte er für so viele Personen eine Mahlzeit bereiten? Rasch fand er eine Lösung. Er kochte zwei Dämpfer Kartoffeln. Als diese gar waren, konnten die Jüdinnen zu ihm kommen und sich jeweils eine Mahlzeit abholen. Anschließend wurde in der Scheune gespeist. Die Frauen waren "so dankbar, dass sie mal wieder Kartoffeln bekamen", so eine Zeitzeugin. Die SS-Bewacher, die zuvor Posten bezogen hatten, schritten ein und versuchten, die Frauen von den Kartoffeldämpfern abzudrängen. Schreiend gaben sie ihre Befehle weiter. Doch Otto reagierte prompt, indem er die Dämpfer in die Scheune schob, in der die Frauen auch übernachten sollten. Otto tat dies in einer Situation, "wo es eigentlich unmöglich war, Juden zu helfen". Am Abend richtete er die Scheune für die Übernachtung der jüdischen Frauen her. Zunächst legte er Stroh aus, anschließend verteilte er Decken aus seinem Haus und aus der Nachbarschaft. Doch diese reichten bei weitem nicht aus, so dass Jutesäcke der Zuckerfabrik einen Ersatzdienst leisten mussten. Für die Nacht machte er die Tore der Scheune dicht, schließlich war es kalt. Deshalb stellte er auch Stroh an die Tore. Weiterhin gestattete der Landwirt, dass die Frauen eine Toilette im Haus benutzen durften, die sich unmittelbar zum Hof befand. Hier standen die Frauen Schlange oder sie gingen ins Feld. Schließlich durften die Jüdinnen ansonsten nicht das Haus betreten, dafür sorgten schon die SS-Posten.

Am anderen Tag verblieben die ungarischen Jüdinnen auf dem Hof. Erst am Abend des 29. März zog die Kolonne weiter Richtung Niedermöllrich. Viel weiter als bis nach Niedermöllrich ging der Marsch der Frauen dann wohl nicht. Allerdings verblieben vier ungarische Jüdinnen auf dem Hof Otto. Bauer Otto versteckte sie einfach und verpflegte sie. Dafür waren ihm die Frauen für ewig dankbar. Die Namen der ungarischen Jüdinnen lauteten: Bela Singer (*1913), Discha Singer (*1918), Klara Singer (*1915) und Clara Klein (*1912).

Nach Kriegsende hatten die Singer-Schwestern für Otto ausgesagt, er sei immer gut zu ihnen gewesen und habe alles Erdenkliche für sie getan. Alle drei hätten wohl für Otto alles gegeben. Ottos wurden häufig von den Frauen eingeladen, die nun in der Bahnhofstraße im Haus Fröhlich wohnten. Immer wieder tischten hier die Singers für ihre Gäste nur das Beste auf. Hier gab es Schokolade und andere Köstlichkeiten. Die Frauen hatten ihren Wohltäter nämlich nicht vergessen. Der Kontakt zur Bauernfamilie Otto riss erst ab, als die drei Frauen 1947 in die USA emigrierten. Über die vierte jüdische Frau, Clara Klein, und ihr weiteres Schicksal ist leider nichts Näheres bekannt.

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