Kalenderblatt August 2005

August 2005

Die letzte Ernte in Ostpreußen: Auf dem Traktor Alfred, Horst auf dem Binder und Vater Fritz Wenghöfer im Hintergrund

Flucht aus Ostpreußen - Ein Flüchtlingsschicksal! (1.Teil). Alfred Wenghöfer erzählt:

Es war Sommer 1944. Bei der Ernte auf unserem Hof hatte ich gut mithelfen können, da der Besuch der Realschule durch die vorgezogene Abschlussprüfung nun beendet war. Ich fühlte mich frei und, zugegeben, ich genoss es auch, nun nicht mehr jeden Morgen fünf Kilometer zur Schule fahren zu müssen. Mit dem Fahrrad im Sommer und mit dem Pferdeschlitten in den kalten und schneereichen Kriegswintern. Aber lange währte diese Freude nicht! Die Front rückte näher an unsere ostpreußische Grenze. Manchmal hörte man schon das Grollen der Geschütze.

Ende Oktober erhielten wir den Befehl zum Packen, also zum Beladen der Wagen. Das Vieh hatte man vor Wochen schon in großen Herden davon getrieben. Das schon lange Befürchtete wurde nun wahr: Flucht! Haus und Hof und Heimat verlassen. Mit zwei Pferdewagen und einem Schlepperwagen fuhren wir Anfang November von unserem Hof. Mein Bruder Horst war zu dieser Zeit beim Arbeitsdienst. Da ich den Schlepper fahren musste, konnte ich nicht, und wollte es auch nicht sehen, wie schwer es meinen Eltern fiel, ihren Hof zu verlassen. Wohl hatte man uns von "höchster Stelle" versichert, im Frühjahr nach dem "Endsieg" wieder zu Hause zu sein, aber daran glaubte wohl niemand mehr. Nach zehntägiger Fahrt vorbei an Königsberg, Richtung Elbing, erreichten wir unser zugewiesenes Quartier bei Braunsberg im südlichen Ostpreußen. Als wir von der Hauptstraße, es war die Autobahn Königsberg-Elbing, abbiegen mussten, sagte mein Vater: "So werden wir den Russen nicht entkommen". Oft musste ich in den Jahren danach an diese Worte denken. Damals aber war ich froh, dass wir die Betten auspacken konnten. Ich war fünfzehn Jahre alt. An Lebensmittel war kein Mangel. Milchkannen mit Schmalz, Mehl, Fleisch, Geflügel. Es war vorgesorgt.

Dann der erste Schock: Die Männer mussten zurück, um die Scheunen leer zu dreschen. Vater auch. Mein Bruder Horst war zu jener Zeit schon zur Wehrmacht eingezogen worden. Anfang Januar mehrten sich die feindlichen Luftangriffe. Die Front war nun schon auf ostpreußischen Boden. Jeden Tag warteten wir sehnsüchtig auf Vater. Ob er es geschafft hat rechtzeitig dem anrückenden Feind zu entkommen? Gewiss lag unser Heimatort Schlecken bei Schillen (21 km südlich von Tilsit) jetzt schon hinter der russischen Kampflinie. Endlich, am 22. Januar 1945 traf er bei uns ein. In nur wenigen Tagen (es war den Männern verboten worden ohne Befehl dort weg zu fahren) hatten die Pferde 180 Kilometer zurückgelegt. Aber auch jetzt gab es kein Ausruhen. Noch am selben Abend wurde der Wagen beladen. Futter für die Pferde, Verpflegung für uns und Betten, Pelzdecken und warme Kleidung. Es lag Schnee und es war bitterkalt. Den zweiten Pferdewagen konnten wir nicht mitnehmen. Eines der beiden Pferde war beim Luftangriff schwer verletzt worden und musste erschossen werden. Früh im Morgengrauen des 23. Januars brachen wir auf. Meine Eltern vorweg, ich folgte mit Schlepper und Anhänger. Die Straßen mussten für das Militär frei bleiben, so versuchten wir auf Nebenstraßen und Feldwegen die Richtung zu nehmen, die uns vom Geschützlärm wegführte. Zuerst eine kleine Kolonne. Dann stießen von rechts und links immer mehr Wagen dazu und so wurde es der so genannte Treck. Tausende und abertausende Flüchtlingswagen waren unterwegs um nun, zu spät, teils viel zu spät, dem anrückenden Feind zu entkommen. Bis Elbing waren russische Einheiten vorgestoßen und hatten den Fluchtweg abgeschnitten. Es blieb nur der Weg über das Haffeis. Wegen der Fliegerangriffe durfte nur bei Nacht gefahren werden, mit 100m Abstand. Schlepper und Anhänger mussten zurück bleiben, wegen des Gewichts. Wenn die Kolonne stockte, standen die Pferde nach kurzer Zeit einige Zentimeter im Wasser. Pfeifend flogen Artilleriegeschosse von russischer Seite über uns hinweg. Eine lange angsterfüllte Nacht. Meine Mutter war 39 Jahre alt. Wird es gut gehen? Werden wir heil rüberkommen? Dann im Morgengauen das Entsetzen! Löcher im Eis tauchten neben uns auf. Betten schwammen darauf. Eine Deichsel ragte aus dem Wasser. Die Pferde schnaubten. Auch sie hatten Angst. Grauenvoll die Vorstellung, mit dem ganzen Gespann hier einzubrechen. Doch, Gott sei Dank erreichten wir das Ufer: Die "Frische Nehrung".

Damals wussten wir nicht, dass es noch sechs lange, entbehrungsreiche, grausame Wochen werden sollten, in denen wir bei Schnee und Kälte, Nassschnee und Regen, Tag und Nacht in der Kolonne auf dem Wagen zubringen mussten. Da half auch die wärmste Kleidung wenig. Es war einfach ungemütlich und kalt. Und die armen Pferde! Unvorstellbares haben sie geleistet. Sechs Wochen kamen sie nicht aus dem Geschirr, wurden nicht vom Wagen abgespannt, konnten sich nicht legen. Von Mitte Januar, als Vater von zu Hause fortfuhr bis zum 5. März hatten sie mehr als 600 Kilometer zurückgelegt. - Aber alles war umsonst. - In den Vormittagstunden jenes 5. März 1945 kamen uns russische Panzer entgegen. Musste uns das passieren!? Nur noch einen Tag, und wir hätten die Fähre nach Wollin erreicht. (Usedom und Wollin sind der Odermündung vorgelagerte Inseln). Die kämpfende Truppe kümmerte sich nicht um uns. Aber was danach geschah, ist unvorstellbar. Es stellte alles, was wir bisher durchgemacht hatten, in den Schatten.

Fortsetzung:
2. Teil, Kalenderblatt März 2006
3. Teil, Kalenderblatt April 2006

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