Kalenderblatt Juni 2015

Juni 2015

"So war es früher" - Kindheitserinnerungen von Sigrid Laabs geb. Weidemann (Teil 4)

Anmeldung als ABC-Schütze

Im März 1950 war es endlich soweit. Ich kam nun selbst in die Schule! Vater übte mit mir am Sonntagmorgen im Bett, meine Geburtsdaten sicher sagen zu können. "Geboren am 30. Dezember 1943 in Bad Wildungen", wiederholte ich mehrere Male, wobei die Zahl 1943 am schwersten zu merken war, das andere wusste ich ja bereits.

Am nächsten Tag stieg ich dann allein, ohne Mutter, die breite Holztreppe hinauf und wartete im Flur, bis ich dran war. Vater saß als Schulleiter ernst und würdig an seinem Pult, starrte in die Papiere und fragte mich:

"Wie heißt du? Wann und wo bis du geboren?". Mit Herzklopfen, aber sehr stolz, gab ich die richtigen Antworten und wurde als Schülerin der 1. Klasse eingetragen.

Zunächst waren die zwei ersten Klassen mit je 30 Kindern in der großen Schule untergebracht. Ich brauchte also morgens nur die Treppe hoch zu gehen. Ein Jahr später aber zogen wir in den umgebauten ehemaligen Kindergarten neben dem Bürgermeisteramt in der Ziegenhainer Straße.

Meine erste Lehrerin hieß Fräulein Thieß, und ich behielt sie die ganzen vier Jahre der Grundschulzeit. Ich liebte sie sehr und wollte von Anfang an, so wie sie, Lehrerin werden. Sie war für damalige Verhältnisse eine junge, fortschrittliche Lehrerin.

Abschied von Wabern

Nach der Pensionierung meines Vaters Ende September 1951 mussten wir die Wohnung in der alten Schule verlassen, denn der neue Schulleiter Gerlach zog mit seiner Frau und Tochter dort ein. Wir zogen in den Grünen Weg in die Dachwohnung des neu errichteten Wohnhauses Homburg als Mieter ein und wohnten dort bis zum Ende des Jahres 1955.

Das war eine große Umstellung, denn in der Schulwohnung hatten wir wie im eigenen Haus gelebt, den Hof und ein kleines Gärtchen vor der Tür.

Aber im Herbst 1955 sollte sich unser Leben völlig ändern. Der Bruder meiner Mutter, der das elterliche Anwesen, den alten "Bessenhof" in Felsberg übernehmen sollte, wurde beruflich nach Kassel versetzt und bekam dort eine Dienstwohnung gestellt. Meine 83jährige Großmutter wäre allein im Haus zurückgeblieben. Es war Vater, der entschied: "Wir gehen nach Felsberg und übernehmen den Bessenhof".

Meine Mutter schrieb später in unsere Familienchronik: "Wabern konnte unseren Entschluss nicht verstehen, nachdem Vater 42 Jahre dort in Freud und Leid, und man kann wohl sagen zum Segen der Gemeinde, gewirkt hatte. Wie sehr die Leute an ihm hingen und ihn als ein Stück von Wabern betrachteten, kam in den Ausspruch eines alten Mannes zum Ausdruck, der meinte: "Wenn der Weidemann weggeht, ist das für Wabern ein nationales Unglück!".

Ihr fiel das Loslösen von dort auch nicht leicht, da sie in den fast 22 Jahren in der Gemeinde auch Wurzeln geschlagen hatte.

Mir selbst fiel der Abschied von Wabern nicht so schwer. Mit den alten Schulkameraden fuhr ich weiter vom Waberner Bahnhof mit dem Bus nach Homberg ins Gymnasium. Ich lernte schnell neue Freundinnen in Felsberg kennen. Das Tollste aber war, dass in Felsberg im Mai 1956 das erste Schwimmbad weit und breit eingeweiht wurde.

Der Umzug fand im Januar 1956 mit tatkräftiger Hilfe von fleißigen Mitgliedern des Gesangvereins statt. Mehrere Fuhren mit einem von einem Traktor gezogenen Anhänger pendelten zwischen Wabern und Felsberg hin und her.

Mein Vater übernahm, nachdem er einen Nachfolger für den Waberner Chor gefunden hatte, noch für mehrere Jahre den Männerchor von Felsberg und beschäftigte sich intensiv mit der Geschichte des alten Bessenhofes, die bis ins 13. Jahrhundert zurückgeht.

Der Bessenhof wurde nach den Grafen von Besse benannt, einem Nachfolgergeschlecht der Grafen von Felsberg. Er war der Wirtschaftshof der Burg mit Herrenhaus, Scheune, Stallungen und Brunnen. Nach einem großen Brand im 30jährigen Krieg wurde das Herrenhaus neu aufgebaut und dahinter ein sehenswerter barocker Garten mit fünf Terrassen errichtet.

Meine Eltern verbrachten bis zu ihrem Tod in 1971 und 1979 noch sehr schöne, erfüllte Jahre in Felsberg und erlebten sogar noch die Geburt ihrer beiden Enkel.

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