Kalenderblatt Oktober 2014

Oktober 2014

Vom Jagdschloss zur Psychiatrie

Das Waberner Schloss, erbaut von Landgraf Karl Anfang des 18. Jahrhunderts, wurde nach einer wechselvollen Geschichte ab 1866 Eigentum des preußische Staates und ab1886 als Königliche Erziehungs- und Besserungsanstalt "für jugendliche Übeltäter" genutzt. Aufgenommen wurden ausschließlich evangelische, männliche Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren, "welche eine strafbare Handlung begangen haben, aber wegen Mangels der zur Erkenntniß der Strafbarkeit der begangenen Handlung erforderlichen Einsicht freigesprochen, und durch gerichtliches Urtheil zur Unterbringung in eine Erziehungs- oder Besserungs Anstalt bestimmt sind", wie es in der Hessischen Morgenzeitung vom 20.9.1886 heißt. Die Hausordnung von 1886 beschreibt die Aufgaben der Anstalt: "Die Zöglinge der Anstalt sollen durch Unterricht, durch Erziehung zur Gottesfurcht, Zucht und Ordnung, sowie durch Gewöhnung an Arbeitsamkeit zu nützlichen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft ausgebildet werden." Der Tagesablauf war komplett durchgeplant: Aufstehen im Sommer um 5 Uhr, Frühstück um 6 Uhr, Arbeit oder Unterricht bis zum Mittagessen um 12 Uhr, Arbeit für alle Klassen im Garten, Feld und Werkstätten bis 18.30 Uhr, Freistunde, Turnen und Baden bis zum Abendessen um 19.30 Uhr, danach Freie Beschäftigung wie Schularbeiten, Lektüre oder Zeichnen, 20.45 Uhr Abendandacht, 21 Uhr Zubettgehen. Auch die Sonntage folgten einem festen Zeitplan mitfrühem Aufstehen, Schularbeiten, Kirchgang, Mittagessen, Freistunde, Kirchgang in der Dorfkirche, gemeinschaftliche Singstunde, Spaziergängen, Spielen, Lektüre oder "Handfertigkeitsarbeit" und der gleichen Abendrunde wie wochentags. Im Großen und Ganzen wird nach dieser Tageordnung bis nach 1945 verfahren.

Ein Jahresbericht von 1894/95 beschreibt die damals 61 Zöglinge, von denen die Hälfte wegen Diebstahl und Unterschlagung, 12 wegen Sittlichkeitsverbrechen eingeliefert worden waren: "Die Vorstellungssphäre der armen Verwahrlosten ist, so lehrt jede neue Erfahrung, meistens die nackt sinnliche. Die positiven sinnlichen Triebe sind bei manchen schon zu Hang und Leidenschaft, ja zu fast habituellen Trieben, zu fast brutalem Ichtriebe gewachsen und negativ geht das Wiederstreben, die Abscheu vor Arbeit und Kleinlichkeit, Zucht und Einordnung, damit Hand in Hand. Freßtrieb, thierische sexuelle Lust und verseuchte Phantasie sind oft so stark, daß trotz aller Erinnerung und Warnung für die Pflicht der körperlichen Selbstbewahrung kein Gehör sich findet und wenn nicht die strenge Zucht in der Anstalt, die stete Arbeit, und ununterbrochene Aufsicht wäre, so würde der Ruin an Leib und Seele unausbleiblich sein." Dass die Erziehungsmethoden bei den Zöglingen oft nicht gut ankamen, zeigt ein Zeitungsbericht der Frankfurter Arbeiter-Zeitung, die im November 1926 zwei Artikel "Gegen die Fürsorgeschmach" veröffentlichte, woraufhin sich weitere "durch das brutale System der heutigen Jugendfürsorge schwer Geschädigte" bei der Zeitung meldeten und ihre Geschichten erzählten. Ein ehemaliger Anstaltsinsasse erinnert sich an seine Waberner Zeit um 1917/18, wohin er nach einer Operation wegen eines "Drüsenleidens" noch mit offenen Wunden und verbundenem Kopf gebracht wurde: "Hier hielt man mich acht Tage in einer Zelle im Dachstock eingesperrt. In dieser Zeit wurde der Verband nicht erneuert und es stellte sich Wundfieber ein. Man brachte mich zu einem Arzt und er erklärte, ich sei arbeitsfähig. Wurde einer Feldkolonne zugeteilt und so verging ein halbes Jahr, bis die Wunden zugeheilt waren. Mit Kleidern und Schuhen waren wir schlecht versorgt. Auch waren wir schon von weitem zu erkennen, denn wir trugen einen dunklen Anzug und um die Mütze ein gelbes Band. Unsere Holzschuhe nannten wir mit Recht "Elbkähne". Wenn wir bei Nässe auf das Feld gingen, dann lief uns das Wasser in die Schuhe, und so kam es, dass wir oft tagelang nasse Füße hatten. Wenn einer die Arbeit verweigerte, gab es ein paar Stunden Strafexerzieren. Da hiess es Hände an die Hüften, Kniee beugt, stillstehen und Laufschritt, bis man am Ende seiner Kräfte war. Das Essen war sehr schlecht, morgens eine dünne Mehlsuppe, um 1/2 10 eine Schnitte trockenes Brot, mittags Dörrgemüse, ... um 4 Uhr mit trockenem Brot und abends mit 1 Liter dünner Suppe aus Erbsmehl oder Haferflocken... Wir nannten diese Suppe „Spucksuppe", denn die ganzen Schalen und Spelzen waren noch drin und mussten von uns ausgespien werden. Dann gings in die Betten. Die waren wie bei den Preussen: Im Winter 2 Koltern, auch wenn es noch so kalt war, wir mussten durchhalten. Viele waren so erkältet, dass sie morgens das Bett nass gemacht hatten und dafür gab es Hausstrafe." Am Ende flüchtete der junge Mann aus der Waberner Anstalt. Der Fall beschäftigte schließlich den Regierungspräsidenten in Kassel, der eine Aktennotiz des ehemaligen Direktors der Anstalt zitiert: "F ist ein durchaus unwahrer Busche, der sich immerwieder durchzulügen weiß."

Mit dem Erwerb durch den Bezirksverband des Regierungsbezirks Kassel im Jahre 1927 wird die Anstalt umbenannt in "Landeserziehungsheim Karlshof".

Infolge der Übernahme durch den Landeswohlfahrtsverband Hessen 1953 wurde der Name geändert in "Jugendheim Karlshof". Das Heim wurde renoviert und um mehrere Gebäude erweitert. Neue Schwerpunkte der Pädagogik waren die Erziehung zur Selbstständigkeit und zur Gestaltung des Lebens aus selbst gewonnener Einsicht ohne äußeren Zwang sowie eine gute Ausbildung der Jugendlichen. Hierfür wurden zahlreiche Ausbildungsstätten eingerichtet.

Dass sich der Erziehungsstil weiter änderte in den frühen siebziger Jahren, zeigt ein Zeitungsartikel der HNA vom 23. Januar 1971, der sich mit der Einrichtung einer Discothek im Karlshof beschäftigte, die "als Experiment im Sinne der Erziehungsreform anzusehen" sei.

Heute wird das Schloss als Standort einer Station, Tagesklinik und Ambulanz der Vitos Klinik Bad Wilhelmshöhe - Klinik für Kinder und Jugendpsychatrie - genutzt. Der frühere Marstall und das Direktorenwohnhaus im Park gehören nach einer umfangreichen Renovierung zur Schlossbergschule. Sie ist als überregionales Beratungs- und Förderzentrum und Schule mit den Förderschwerpunkten "emotionale und soziale Entwicklung" für kranke Schülerinnen und Schüler zuständig. Die bisherigen Ausbildungswerkstätten wurden am 1. Juli 2012 geschlossen. Die Vitos-Gesellschaften und die Schlossbergschule gehören zum Landeswohlfahrtsverband Hessen.

Zurück zur Kalenderseite