Kalenderblatt November 2008

November 2008

Erinnerungen: Kriegsende in Wabern - zerbombte Güterwagen im Bahnhof

Die letzten Kriegstage verbrachten viele Bürger heimlich vor den Volksempfängern um den Vormarsch der Alliierten Streitkräfte zu verfolgen. So wurde vernommen, dass sich die amerikanischen Truppen innerhalb von 14 Tagen von Frankfurt über Gießen, Marburg und Treysa unserer Heimatgemeinde näherten. Wilhelm Wiegand (damals Frankfurter Straße 16) schildert in seinen Erinnerungen: Alles war in Aufregung, in aller Eile wurde nun das Schlachtzeug, Einmachgläser und Leinensachen in Kisten verpackt und im Garten vergraben. Am 29.03.1945 kam eine Kompanie von 250 deutschen Soldaten in Ort an und verteilten sich in den Scheunen der Frankfurter Straße. Auch in der Scheune der Familie Morsch, erinnert sich Elisabeth Kumaus, lagen 20 Soldaten versteckt unter Stroh und Heu. Mit Bangen musste man das Geschehen hinnehmen, bestand doch die Gefahr, dass die einrückenden Truppen die Soldaten fanden und die Scheune in Brand steckten. Am nächsten Tag, es war Karfreitag, wurde durch den Ortsdiener Heinrich Ditzel, der mit der Schelle durch die Gemeinde zog, bekannt gegeben, dass sich die Einwohner in feste Häuser begeben sollten. Um 14.30 Uhr kamen die ersten amerikanischen Panzer von Großenenglis herkommend auf den Hungerberg. Elisabeth Kumaus war von ihrem Vater beauftragt worden, den Einmarsch der Amerikaner zu melden. Sie stand auf Nachbars Miste und sah den Aufmarsch der Panzer. Die deutsche Artillerie stand bei Obermöllrich/Cappel im Obersten Holz. Das gegenseitige Beschießen begann. Die Anzahl der amerikanischen Panzer, die bis zur Uttershäuser Straße fuhren, nahm zu. Der Chronist Wiegand erinnerte sich, dass anschließend auch Panzer von der Homberger Straße her in das Dorf einfuhren. Dann wurden Maschinengewehrsalven und der Abwurf von Handgranaten wahrgenommen. Wiegand schreibt, dass Wabern innerhalb einer Stunde besetzt war. Am nächsten Tag kamen die deutschen Soldaten aus ihren Verstecken, ergaben sich und gingen in amerikanische Gefangenschaft. Sie wurden am Bahnhof verladen und nach Ziegenhain gebracht. Die amerikanischen Kampfeinheiten hatten sich im Reiherwald, am Bahndamm entlang, in der Bahnhofstraße und in der Siedlung aufgestellt.

Eine Granate, die von der deutschen Artillerie abgeschossen worden war, traf das Wohnhaus von Fritz und Minna Berthel in der Engelstraße. Der Dachstuhl brannte ab. Die an der Zuckerfabrik aufgestellten Flakgeschütze erhielten einen Volltreffer. Ein Schuppen in der Zuckerfabrik brannte vollständig nieder. Die Feldscheune neben den Schlammteichen, die mit Rohzucker gefüllt war, wurde ein Raub der Flammen. Der Zucker wurde zu einer breiigen Masse, die sich auf den Harler Weg und das angrenzende Feld ergoss. Hunderte von Güterwagen standen im Bahnhof. Durch Beschuss brannten viele, so auch der Güterschuppen, aus.

Die Besatzer ordneten die Räumung zahlreicher Häuser an. Die Hausbesitzer der Ziegenhainer Straße, der Bahnhofstraße und der Siedlung waren teilweise betroffen. Die Beschlagnahmung von Wohneigentum sollte in den meisten Fällen nur einige Tage dauern. Nach acht Wochen lagen nach Angaben von Wiegand noch immer 800 Mitglieder der amerikanischen Streitkräfte im Dorf. Sachbeschädigungen und Plünderungen waren an der Tagesordnung. Auch die ehemaligen Kriegsgefangenen bzw. Zwangsarbeiter (Polen und Russen) waren beteiligt. Handwagen, Fahrräder, Schränke, Vieh und Radioapparate wurden am hellen Tage entwendet. Dem Sägewerksbesitzer Mose sollen von seinem Betriebsgelände Holz und Werkzeug von den Besatzern beschlagnahmt direkt in Eisenwahnwaggons verladen worden sein.

Der Chronist schildert auch die Vergewaltigung von Frauen aus Wabern. Die Landstraßen, schreibt Wiegand weiter, glichen einer Völkerwanderung. Weil noch keine Eisenbahn ging und kein Auto fahren durfte, zogen überwiegend Frauen mit Kindern mit wenigen Habseligkeiten auf einem Handwagen durch Wabern. Ein jeder Deutscher, der über 12 Jahre alt war, musste einen Ausweis mit Fingerabdruck bei sich führen. Die Polizeistunden dauerte von 20.00 Uhr bis 6.00 Uhr, ab dem 28. Mai 1945 von 21.00 Uhr bis 5.00 Uhr. Die Russen und Polen, die in den beiden Schulen untergebracht waren, wurden abtransportiert. Die ersten deutschen Soldaten kamen in ihre Heimat zurück. Unter dem 30. Mai 1945 berichtet Wiegand, dass die Amerikaner auf der Wiese von Landwirt Knaust einen Tennisplatz angelegt haben, in dem sie Steinschlag und Sand aufbrachten und anschließend glatt walzten.

Ab dem 1. Juni 1945 wurden die Lebensmittelrationen gekürzt. Wiegand informiert, dass er an Fleisch oder Fett nur noch 50 Gramm die Woche bekommt. An diesem Tag fuhr auch der erste Personenzug von Wabern nach Kassel und zurück. Am 18. Juni hatten die russischen Zwangsarbeiter die Wimmerschule verlassen und brachen in ihre Heimat auf. Am 30. Juni mussten alle Wohnungen in den Häusern der Zuckerfabrik geräumt werden. Der Direktor zog in eine Holzbaracke. Der Betriebsleiter Hahn hielt sich mit seiner Familie in den Büroräumen auf. Insgesamt 1.500 Soldaten waren im Ort einschließlich Schloss untergebracht. Am 1. April 1946 wurden die Lebensmittelrationen von 1550 auf 1275 Kalorien bekürzt. Am 31. Mai 1946 trafen die neuen Lebensmittelmarken ein. Erwachsene erhielten in der Woche 2 Pfund Brot und jedes Kind 1 Pfund. Am 8. Juni 1946 sind die amerikanischen Besatzungstruppen, bis auf eine Nachhut, aus dem Ort abgezogen. Am 4. August 1946 trafen in Wabern 1200 Flüchtlinge ein. Die verantwortliche Wohnungskommission brachte die Familien in den beschlagnahmten Zimmern unter.

Die Fotos auf der Vorderseite zeigen durch Bombenexplosionen beschädigte Waggons im Bahnhof Wabern.

Zurück zur Kalenderseite