Kalenderblatt April 2003

April 2003

Ehemaliges Haus Löwenstein in der Bahnhofstraße 21

Der Kaufmann und Manufakturwarenhändler Simon Löwenstein (*11.01.1857 in Obermöllrich) und seine Ehefrau Gitta, geborene Grunsfeld (*24.02.1875 in Helmshausen), zogen vor 1895 oder im Verlauf dieses Jahres nach Wabern. Simon sollte nach dem Willen seines Schwiegervaters eigentlich die älteste Tochter heiraten. Er entschied sich jedoch für die jüngste Tochter und sie heirateten am 24.02.1895.

Die Familie Löwenstein erwarb das Haus Nummer 142, heute Bahnhofstraße 21, mit dem dazugehörigen Garten. Als Firma H. Löwenstein eröffnete Simon dort sein Einzelhandelsgeschäft, welches am 09.12.1896 in das Handelsregister zu Fritzlar eingetragen wurde. Höchstwahrscheinlich übernahm Simon das Geschäft von Heinemann Löwenstein, seinem ältesten Bruder (Jahrgang 1840). Wahrscheinlich war Simon farbenblind. Normalerweise ist dies kein allzu großes Handicap, doch was tun, wenn zum Stoff ein passendes Garn auszusuchen ist? Wohl häufig rief dann Simon seine Ehefrau: "Gitta, kommst du mal?".

Schnell vergrößerte sich in der Folgezeit die Familie, fünf Kinder wurden in diesem Haus geboren:
Irma *08.12.1895
Adolf *17.01.1897
Leopold *18.02.1898
Walter *12.05.1900
Hanna *27.01.1906

Alle Kinder besuchten zunächst die Volksschule am Ort, danach wechselten die Söhne auf die Oberrealschule II in Kassel, die Mädchen besuchten wahrscheinlich das "Lyzeum des Ursulinen-Klosters" in Fritzlar, wie Tochter Hanna seit 1914.

Während des Ersten Weltkrieges absolvierten Leopold und Walter in Braunschweig eine kaufmännische Lehre. Nach deren Beendigung wurde Walter für sechs Monate noch Soldat, Leopold diente dagegen zwei Jahre, nachdem er bereits fest im Berufsleben stand. Beide überlebten, während ihr Bruder Adolf am 05.04.1918 ein Opfer des ersten technisierten Massenkrieges wurde.

Noch Kriegsende blieb Leopold als Kaufmann in Wuppertal-Elberfeld, Irma verließ Wabern nach ihrer Hochzeit 1921. Zwei Kinder blieben jedoch in Wabern. Hanna trat 1924 in das elterliche Geschäft zur Ausbildung ein, zwei Jahre später auch Walter.

In der nationalsozialistischen Zeit wurde es für die verbliebenen Familienmitglieder immer schwieriger, nicht nur ihre wirtschaftliche Existenz zu sichern. Walter wurde 1933 ein Opfer der Folterungen im Karlshof. Nach achttägiger "Schutzhaft" im Kasseler Polizeigefängnis, wohin er anschließend gebracht wurde, kam Walter wieder frei. Noch im gleichen Jahr verzog er noch Kassel, obwohl er tagsüber das Geschäft weiterbetrieb. Schließlich wurde der kärgliche Umsatz fast nur noch durch Reisetätigkeit auf die umliegenden Dörfer erzielt. So war die Aufgabe des Geschäftes nur noch eine Frage der Zeit, da die Kundschaft ausblieb. 1935 verließ Hanna Wabern. Über Berlin ging sie noch New York. Im Mai 1936 wanderte Walter nach Holland aus, im September gingen Simon und Gitta zunächst nach Eschwege zu Tochter Irma, 1939 übersiedelten sie nach Berlin in die Anonymität der Großstadt.

Am 25. Mai 1937 wurde die Firma im Handelsregister gelöscht, am 21.03.1938 gelang der Verkauf des Grundstücks in der Bahnhofstraße. Fortan hatte das Gebäude verschiedene Besitzer.

Simon verstarb 1940 in Berlin. Gitta gelang mit Irmas Familie die Flucht in die USA. Sie starb 1956 in New York, wo auch ihre Tochter Irma 1972 verschied. Hanna dagegen hatte ein langes Leben, sie verstarb 1999 ebenfalls in New York. Walter überlebte auf abenteuerliche Weise den nationalsozialistischen Holocaust in Holland. Er versteckte sich in Utrecht, um der Deportation im März 1943 in ein Konzentrationslager zu entgehen. Später kehrte er nach Deutschland zurück. 1967 verstarb er in Bad Wildungen. Leopold überlebte ähnlich abenteuerlich wie Walter den Zweiten Weltkrieg in Holland. Er versteckte sich, als die Abtransporte begannen, hinter einer doppelten Wand. 1975 verstarb er in Amsterdam.

Zur Fotografie: Postkarte um 1910, im Fenster sind vermutlich Irma und ihre neun Jahre jüngere Schwester Hanna zu erkennen, am Gartentor steht höchstwahrscheinlich Mutter Gitta.

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