Kalenderblatt November 2002

November 2002

Robert Spitschan, vom Mühlenbesitzer zum Bäcker-Verkaufsfahrer

Durch das Potsdamer Abkommen vom 02, August 1945 wurde durch die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges eine "ordnungsgemäße und humane Überführung" der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße, aus dem Sudetenland, auch aus der UdSSR, Polen, Rumänien, Ungarn und Jugoslawien in deutsche Gebiete festgelegt. Tatsächlich wurde die Überführung zu einer unmenschlichen Vertreibung, die im Herbst 1950 im Wesentlichen abgeschlossen war.

Am 14. Februar 1946 traf der erste von 16 geschlossenen Flüchtlingstransporten, die insgesamt 12.509 Ostflüchtlinge in den Kreis Fritzlar-Homberg brachten, auf dem Bahnhof in Wabern ein. Die Beschaffung von ausreichend Wohnraum und anschließend auch von Arbeit war für die damit befassten Stellen angesichts der schnellen Folge der eintreffenden Transporte (am 19. April 1946 kam der zweite mit 1.202, am 24. April bereits der dritte Transportzug mit 1.153 Personen in Wabern an) ein schwieriges Unterfangen, zumal zu diesem Zeitpunkt schon etwa die gleiche Anzahl von Evakuierten und Ausgebombten im Kreis aufgenommen worden war. Am 1. März 1948, also zwei Jahre nach dem ersten Transport, wurden von den Städten und Gemeinden des Kreises insgesamt 18.981 Flüchtlinge und 12.977 Evakuierte gemeldet. Das bedeutete gegenüber dem Bevölkerungsstand von 1939 einen Zuwachs von rd. 54%. Bezogen auf Wabern liegen diesbezüglich keine Auswertungen vor.

"Es darf nicht vergessen werden, daß die Heimatvertriebenen nach 1945 wesentlich zum Wirtschaftswunder in unserem Land beigetragen haben. Die Schilderung von Einzelschicksalen geben einen Einblick in die Not und das Elend als Folge des Zweiten Weltkrieges. Sie bestätigen jedoch auch den Aufbauwillen aller Deutschen." (Landrat August Franke, 1984 im Vorwort zur Dokumentation "Schwalm-Eder-Kreis-Heimat für Vertriebene").

Ein wohl unvergessenes Bild für alle Waberner ist Robert Spitschan mit Pferde-Verkaufswagen, mit dem er fast 22 Jahre Bäckereiwaren in unserer Gemeinde ausfuhr. Robert Spitschan wurde am 5. Oktober 1908 in der über 500 Einwohner zählenden Gemeinde Stupna, Kreis Hohenelbe, im Riesengebirgsland / Sudetenland als Sohn des Bauern Johann und seiner Ehefrau Sophia geboren. Nach dem Besuch der Volksschule und der Mitarbeit am elterlichen Hof heiratete er am 6. Februar 1936 die in der benachbarten Gemeinde Widach am 7. Oktober 1906 geborene Rosa Rolf. Das Ehepaar kaufte eine der vier in Stupna am Goldbach gelegenen Mahlmühlen (Haus Nr. 40). Im Lehrlingsbuch ist nachzulesen, dass Robert vom 1. Februar 1936 bis 31. Januar 1938 vom Vorbesitzer das Müllergewerbe erlernte. Am 30. August 1937 kam Sohn Heinz, am 27. Mai 1940 Sohn Kurt zur Welt. Im Dezember 1940 wurde Robert zum Kriegsdienst eingezogen. Er geriet bis zum 28. Mai 1946 in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Freilassung ging er nach Bad Wildungen und fand Arbeit als Landarbeiter in der Domäne Neumeyer (Gelände der jetzigen Holzfachschule), ehe er bereits im November 1946 in gleicher Anstellung zum Landwirt Ludwig Meyfahrt nach Wabern wechselte.

Rosa Spitschan verlor, wie viele andere im Sudetenland auch, im Jahr 1945 ihr gesamtes Hab und Gut und wurde ausgesiedelt. Sie gelangte mit den beiden Söhnen über Nordhausen nach Unterwellenborn, wo sie in der dortigen Ziegelei arbeitete. Am 24. Mai 1947 erhielt Robert die Zuzugsgenehmigung für seine Familie, die vorerst bei Landwirt Meyfahrt im Schmiedeweg 1 ein neues zu Hause fand. Weitere Wohnungen bezog die Familie Spitschan im Laufe der Jahre in der Kurfüsten- und in der Zeppelinstraße, ehe im Jahr 1965 das eigene Haus in der Südstraße 25 fertiggestellt und bezogen werden konnte. Vom 4. Oktober 1948 bis 31. Dezember 1949 arbeitete Robert Spitschan als Hilfsarbeiter beim Baugeschäft Willi Schmidt in Wabern. Für geleistete Arbeit im Jahr 1949 (April bis Dezember) erhielt er einen Bruttolohn von insgesamt 1.698,43 DM, was einem Wochenlohn von etwa 47 DM entspricht.

Am 1. April 1950 begann Robert Spitschan seine Tätigkeit als erster Verkaufsfahrer der Bäckerei Rudolf Crause, der er bis zu seinem krankheitsbedingten Ausscheiden am 31. Mai 1971 die Treue hielt. Viele Anekdoten gibt es über das Unikum des Waberner Alltags der fünfziger und sechziger Jahre. Hierzu gehört die sprichwörtliche Kundenfreundlichkeit des Sudetenländer, von der man heute noch spricht. So wäre es ihm nicht zu mühsam gewesen wegen eines Brötchens oder einer vergessenen fünf Pfennig teuren Hefe, wiederholt bis in den dritten Stock zur Kundschaft zu laufen. Insgesamt drei Pferde lenkte der führerscheinlose Robert mit den Verkaufswagen in den gut zwanzig Jahren seiner Tätigkeit. Man behauptet, dass sie alle ganz genau wussten, wo sie während der Tagestour stehen zu bleiben hatten. Geduldig warteten sie auch in der Bahnhofstraße vor der Unterführung zur Zuckerfabrik, während Robert Spitschan zu Zeiten der Kampagne regelmäßig die Arbeiter mit frischen Brötchen per Kötze (Rückentragekorb) belieferte. Mit seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben verschwand auch der Pferdewagen aus dem Ortsbild. Robert Spitschan, der zusammen mit seiner Familie in Wabern, wie viele andere Ostvertriebene, ein neues zu Hause gefunden hatte, starb am 16. April 1984 fern der alten Heimat, die er nie mehr wieder gesehen hatte. Seine Frau Rosa feierte 2001 ihren 95. Geburtstag. Vor drei Jahren fand sie noch die Kraft der stark verfallenen Mühle in Stupna einen Besuch abzustatten.

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