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Ausrufer
Skulptur von Christine Perseis
Die Skulptur zeigt einen Gemeindediener mit Glocke, wie man ihn noch weit bis ins letzte Jahrhundert hinein in den Dörfern erleben konnte. Der Gemeindediener war ein haupt- oder nebenberuflicher Beschäftigter einer Stadt oder Gemeinde, dessen Aufgabe die mündliche Verbreitung amtlicher Bekanntmachungen und sonstiger Angelegenheiten in einem Ort war. Da die Gemeindediener häufig eine Glocke mit sich führten, um auf sich aufmerksam zu machen, wurden sie in manchen Gegenden auch Ausrufer oder Ausscheller genannt.
Die Ortsschelle ist ein längst in Vergessenheit geratenes Instrument, um die offizielle Bekanntgabe von Neuigkeiten im Dorf anzukündigen. All die vielen kleinen und großen, wichtigen und manchmal weniger wichtigen Dinge, die ein Dorf und seine Bewohner angehen, wurden bis in die 1970er Jahre durch den Gemeindediener mit der Ortsschelle ins Dorf getragen.
Mit dem Ausruf "Bekanntmachung" begann er seine Mitteilung zu verlesen. Wenn die Schelle an verschiedenen Stellen im Dorf erklang, wusste jeder, jetzt muss ich vor die Tür gehen und hören, was es Wichtiges zu vernehmen gibt. Da wurde unter anderem bekannt gegeben, wann und wo die Mütterberatung stattfindet, wann der Bus mit der Röntgenschirm-Bildstelle ins Dorf kommt, um den Leuten die Gelegenheit zu
geben, ihre Lunge
durchleuchten zu lassen, wann die mobile Federbettenreinigung
oder die Ölmühle ihre Dienste anbietet.
Wer eine Waage gewerblich nutzte, musste diese durch
das Eichamt prüfen lassen. Auch diese und viele andere
Termine wurden vom Ausrufer verlesen.
Neben der Tätigkeit als offizieller Ausrufer nahmen Gemeindediener
häufig auch vielfältige andere
Aufgaben wahr. So auch Konrad Stieglitz,
der als einer der letzten Harler Bürger als Gemeindediener
und Küster gleichzeitig in Gemeinde- und Kirchendiensten stand. Zu seiner
Zeit wurde die Kirche noch mit einem
Holzofen geheizt. Das bedeutete, dass vor
den Gottesdiensten der Ofen angeheizt werden musste. Viele Körbe
mit Holz und Kohlen musste er schleppen, damit es zum Gottesdienst
nicht zu kalt war in der Kirche.
Die Glocken wurden damals noch geläutet, indem an Stricken, den
sogenannten Glockenseilern, gezogen wurde. Manchmal haben dies
die Konfirmanden übernommen, die dann ihren Übermut an den Seilen
ausließen.
Auch die schwere Arbeit des Aushebens von Gräbern oblag Konrad Stieglitz.
Jeder Spatenstich wurde von Hand angesetzt. Im Winter, wenn die
Erde sehr gefroren war, wurde ein Feuer auf der auszuhebenden Grabstelle
angefacht, um den Boden aufzutauen.
Aber nicht nur dies zeichnete Konrad Stieglitz als Gemeinde- und
Kirchendiener von Harle aus, vielmehr war es auch ein besonderer
Name, mit dem man ihn bezeichnete. Er war der "Schlosskonder".
Doch wie kam es zu dieser Bezeichnung? Der zweite Wortteil "konder"
ist schnell erklärt, er leitet sich von seinem Vornamen Konrad
ab. Zu dem ersten Wortteil "Schloss" gibt es folgende Geschichte.
Konrad Stieglitz wohnte in dem Haus in der Turmstraße 11, das er vor
dem Zweiten Weltkrieg gekauft hatte. Im 19. Jahrhundert bewohnte
die jüdische Familie Schloss dieses Haus. Hiervon wurde der Hausname
"Schlösschen" abgeleitet und im Sprachgebrauch als Bezeichnung
auch für die nachfolgenden Bewohner dieses Hauses, übrigens von
einigen Harlern noch bis in die heutige Zeit, verwendet. Der Schlosskonder
war also der Konrad aus dem Schlösschen.
Nach dem Schlosskonder wurden Bekanntmachungen und das Ausheben von Gräbern noch bis zur Übernahme durch die Gemeinde Wabern von Philipp Neidert und seinem Sohn Willi übernommen. Den Küsterdienst versahen bis in die 1990er Jahre Mimi und Kurt Freudenstein mit Tochter Ingrid Schmidt.
Abbildungen, links: Die originale Ortsschelle; oben: Das Foto zeigt Konrad Stieglitz, den
"Schlosskonder" vermutlich um 1950 bis 1960. Die Skulptur des Ausrufers wurde von der
Holzschnitzerin Christine Perseis, einer Schülerin der Berufsfachschule für Holzschnitzerei
und Schreinerei aus Berchtesgaden, während eines Holzbildhauer- symposiums im April 2015 in
Wabern angefertigt.